Eine Essenerin nahm einen kleinen Jungen aus dem Jemen in ihre Familie auf – und kämpfte dafür, dass seine Eltern ihn Jahre später wieder in die Arme schließen konnten
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Manchmal bringt das Schicksal Familien zusammen, die sich sonst nie begegnet wären. So wie die von Nurgül Yakut und dem kleinen Mohammed: Der Zweijährige aus dem Jemen lag in einem Essener Krankenhaus, als Nurgüls Familie auf ihn aufmerksam wurde. „Er war ganz allein und saß mit einem verletzten Bein im Rollstuhl“, erinnert sich die 45-jährige Essenerin.
Ihr Mann, so Nurgül, habe damals die Tochter einer Freundin auf der Kinderstation besucht und den kleinen Jungen gesehen. Richtig süß sei er gewesen, daran erinnern sich beide noch gut. Eine Hilfsorganisation, so erfuhren sie, habe das Kind aus dem Jemen nach Deutschland gebracht. „Die Eltern wollten, dass sein Bein hier behandelt wird“, erzählt Nurgül. „In seiner Heimat hätte er es wahrscheinlich verloren oder wäre an einer Blutvergiftung gestorben.“
Einiges fiel ihr auf an diesem Kind, erzählt Nurgül: „Mohammed hat auf dem Boden geschlafen und mit den Fingern gegessen – so kannte er es aus seiner Heimat.“ Ganz allein lag der Junge in der Klinik, bis sein Bein gesund war und er zurück gesollt hätte. Doch dann, so Nurgül, brach im Jemen der Krieg aus. Ein Zweijähriges Kind dorthin zurückschicken? Das ging auf keinen Fall.
Für Mohammed gab es keinen Plan
Aber einen echten Plan gab es nicht für Mohammed: Niemand wusste, wohin mit ihm. Ärzte und Schwestern nahmen ihn übers Wochenende abwechselnd mit nach Hause, aber das konnte natürlich keine Lösung sein. Nurgül und ihr Mann, die sich lange ein drittes Kind gewünscht hatten, überlegten: Könnten wir den Jungen zu uns holen?
„Zuerst hatte ich Bedenken, ob ich das schaffen würde, denn mein Mann und ich sind beide berufstätig“, so Nurgül. Doch als ihre beiden großen Töchter ihr gut zusprachen und auch ihre Mutter Hilfe anbot, reduzierte Nurgül ihre Arbeitszeit, telefonierte mit der Hilfsorganisation, die für Mohammed zuständig war – und gewöhnte das Kind schließlich langsam an sein neues Zuhause.
Trost und ein Zuhause für ein fremdes Kind
Leicht war es anfangs nicht, erinnert sich Nurgül: „In den ersten Nächten wurde er schreiend und weinend wach, so dass ich ihn halten und trösten musste.“ Für sie kein Wunder: „Er war total traumatisiert, so lange von seinen Eltern getrennt.“ Natürlich habe Mohammed gewusst, dass er im Jemen eine Familie hat. „Aber für ihn wurden wir mit der Zeit Mama und Papa“, erzählt Nurgül. „Und für unsere Töchter war er ein kleiner Bruder.“
Etwas jedoch ließ Nurgül keine Ruhe: Seit Mohammeds Eltern ihren kleinen Sohn nach Deutschland geschickt hatten, gab es keinerlei Kontakt mehr zwischen Eltern und Kind. „Sie wussten monatelang nicht, wie es ihm geht, und hatten Angst, ihn nie wiederzusehen“, erzählt Nurgül. So sehr sie selbst Mohammed ins Herz geschlossen hatte wie einen eigenen Sohn: Das kam ihr nicht richtig vor. Und so machte sie sich daran, die Telefonnummer der Eltern im Jemen ausfindig zu machen und immer wieder anzurufen. „Und auf einmal ging Mohammeds Vater ans Telefon.“
Bleiben – oder doch zurück in den Jemen?
Nurgül Yakut und ihr Mann sprachen kein Arabisch – und der kleine Mohammed bislang ebenso wenig. Trotzdem, so erzählt sie, habe sie den Hörer an den Jungen weitergereicht und durch liebevolle Worte versucht, den Eltern zu vermitteln: Eurem Sohn geht es gut. Für die nächsten Telefonate organisierte Nurgül dann eine Übersetzerin – eine Kollegin, die Arabisch sprach – und schickte Fotos und Videos von Mohammed.
„Eines Tages fragte sein Vater, ob Mohammed bei uns bleiben könne“, erzählt Nurgül. Seine Frau sei wieder schwanger, ihr Haus im Jemen bombardiert worden – er fand, Mohammed wäre in Deutschland besser aufgehoben. Nur zu gerne hätte Nurgül den kleinen Jungen für immer bei sich aufgenommen: „Wir haben eine starke Bindung aufgebaut und ich konnte mir nicht vorstellen, ihn zurückzuschicken, noch dazu in ein Kriegsland.“ Doch sie dachte auch an Mohammeds Mutter, die ihren Sohn schmerzlich vermisste.
Ein Weg mit vielen Hindernissen
Und eines Tages habe die Hilfsorganisation angekündigt, dass Mohammed mit dem nächstmöglichen Flieger in den Jemen zurückmüsse. „Da war er schon über ein Jahr bei uns“, sagt Nurgül. Inzwischen besuchte er den Kindergarten, sprach Deutsch und Türkisch, ein kluges, aufgewecktes Kind. Aber dann sei der Flug im letzten Moment gestrichen worden, und Mohammed blieb in Deutschland. „Aber seine Mutter wollte ihn zurück, und so habe ich überlegt, wie ich der Familie helfen könnte“, sagt Nurgül.
Sie nahm Kontakt zum Ausländeramt auf und leitete eine „Familienzusammenführung“ in die Wege. Mohammeds Eltern mussten eine dreitägige Reise in den Oman unternehmen, wo in der Deutschen Botschaft ein entsprechendes Formular auf sie wartete. „Inzwischen hatten sie ihr Baby bekommen, und plötzlich gab es doch noch Probleme, denn das Baby hätte nicht mit nach Deutschland reisen dürfen“, erzählt Nurgül. Wieder ließ sie jedoch nicht locker, telefonierte sich die Finger wund und erreichte schließlich, dass die ganze Familie samt Baby in den Flieger nach Deutschland steigen konnte.
Willkommen in Deutschland
„Wir mussten für die Familie bürgen“, so Nurgül, „und sie finanziell absichern. Zum Glück konnten wir uns das leisten. Sie haben bei uns gewohnt, bis wir eine eigene Wohnung für sie gefunden haben. Die ersten Monate haben wir die Miete bezahlt.“
Und so kam es, dass Hashem und Nassim ihren inzwischen 5-jährigen Sohn Mohammed zum ersten Mal wieder in die Arme schließen konnten. Die Eltern, so Nurgül, seien toll mit der Situation umgegangen, obwohl es für sie sehr emotional war. Inzwischen wohnt die Familie mit Mohammed, seinem kleinen Bruder und einer neu geborenen Babyschwester ganz in der Nähe der Yakuts in Essen-Bocholt. Der Vater habe Aussicht auf eine feste Anstellung, die Mutter lerne fleißig Deutsch, erzählt Nurgül: „Sie hat sich überall in der Wohnung Zettel aufgehängt mit Vokabeln.“
„Wir sind wie eine große Familie geworden.“
Und Mohammed? Der heute Achtjährige spricht fließend Arabisch, Türkisch und Deutsch und besucht seine „Ersatzeltern“ regelmäßig. Anfangs noch skeptisch, sagt er inzwischen: „Ich habe zwei Mamas und zwei Papas.“ Auch Nurgül sagt: „Wir sind wie eine große Familie geworden. Wenn der Krieg im Jemen vorbei ist, wollen wir alle zusammen mit Mohammed dorthin reisen.“
Ihr spontanes Engagement für ein fremdes Kind, eine fremde Familie, hat sie keinen Moment bereut, im Gegenteil: „Ich bin froh, dass es so passiert ist“, sagt Nurgül. Die größte Herausforderung sei gewesen, die enorme Verantwortung zu übernehmen: „Ich habe den Eltern versprochen, dass ich für Mohammed sorge. Auf so ein Kind passt man zehnfach auf.“
Und Mohammeds Eltern sind mehr als dankbar für Nurgüls Liebe und für ihren Mut. Ihre kleine Tochter heißt mit zweitem Namen Yasemin – das ist auch Nurgüls zweiter Vorname.
Text: Sonja Mersch