Nach Wien – Wie wir dem Terrorismus seinen Nährboden entziehen

Terror besiegt man nicht mit Koranversen, sondern indem man etwas in Augenschein nimmt, was bisher nur ein Randthema ist: die Täterbiografien am Rande der Gesellschaft.

Von Muhammad Sameer Murtaza

„Der politische Islam richtet sich gegen uns alle und ist viel gefährlicher als der Jihadismus und Salafismus, weil er viel subtiler, nämlich in Krawatte und Anzug, auftritt. Das durchschauen viele Politiker noch nicht, mit denen ich rede“, so der Religionspädagoge Mouhanad Khorchide vor wenigen Wochen in der Zeitung Der Standart. Nicht nur verharmloste Khorchide damit den islamisch verbrämten Terrorismus und trivialisierte seine Opfer und deren Angehörigen, obendrein offenbart er seine offenkundige Ahnungslosigkeit. Gut also, wenn Politiker skeptisch sind, denn der IS ist noch lange nicht geschlagen.

Diese Terrororganisation besiegt man nicht mit einer esoterischen Barmherzigkeitstheologie oder dem Jonglieren mit Koranversen, sondern indem man etwas in Augenschein nimmt, was bisher nur ein Randthema ist: die Täterbiografien.

Das Lesen religiöser Schriften lässt niemanden von heute auf morgen zum Extremisten werden, das beweisen uns täglich 1,8 Milliarden Muslime. Diese stupide Kausalverbindung hat zur Folge, dass bis heute Extremismus im Namen des Islam nicht wirklich tiefgründig, nämlich auf der psychologischen und ökonomischen Ebene, verstanden wird. Nach Karl Marx prägt das gesellschaftliche Sein des Menschen sein Bewusstsein. Die Lebenswelt vieler junger Menschen, ob sie nun in Kairo oder in den Vororten von Paris leben, ähnelt sich auf erschreckende Weise. Früher konnten junge Menschen in Europa ohne Schulabschluss oder Ausbildung in den Fabriken und an den Fließbändern noch eine Anstellung finden. Sie konnten sich ihren Lebensunterhalt verdienen, heiraten und eine Familie gründen. Sie wurden ein aktiver Teil ihrer Gesellschaft. Doch die Arbeitswelt hat sich gewandelt. Wer heute keinen Schulabschluss, keine Ausbildung oder nur einen Haupt- oder Realschulabschluss vorweisen kann, der steht abgehängt am Rande unserer Bildungsgesellschaft und ist damit zugleich von der Teilhabe ausgeschlossen. Qualvoll hangeln sich diese jungen Menschen von Leiharbeitsjob zu Leiharbeitsjob, von Zeitverträgen zu Zeitverträgen und verdienen gerade so viel, dass es zum Überleben reicht. Sie gehören zu der Zunft der berufstätigen Armen ohne Zukunft. Hausen tun sie in tristen, funktionalen, engen Wohnungen an den Rändern unserer Städte gleich Hühnern in Legebatterien. Gerade die männlichen Verlierertypen gelten in der Partnerwahl als die schlechte Wahl. Da sind sie nun also und sitzen ihre Lebenszeit ab. Sie können nicht die verantwortungsvollen Ehemänner und auch nicht die stolzen Väter sein, die sie gerne sein möchten. Und sie fangen an, die Lügen der westlichen Spaß- und Konsumgesellschaft zu durchschauen. Sie wurden betrogen. Nicht jeder kann ein Superstar, ein erfolgreicher Rapper oder ein Profi-Boxer werden. Berühmtheit, Reichtum und Luxus stehen nicht allen offen. Teilhabe, Wohn- und Lebensqualität sind gekoppelt an Einkommen. Diese abgehängten jungen Menschen stehen am Rande, ohne Sinn, ohne Wert, ohne Bedeutung für die westlichen Gesellschaften. Somit sind sie zugleich frei alles zu tun, was sie wollen, denn sie haben nichts zu verlieren.

Quelle: MiGAZIN, www.migazin.de

Vollständigen Artikel lesen auf MiGAZIN

 

am 5. November 2020

Ähnliche Artikel: